Ingeborg Knigge     Katalogtext (Auszug) zur Ausstellung Fotosynthesen im Saarlandmuseum

Bilder aus der Stadt

Roland Augustin

Während sie in »La chasse« mit der Abfolge von Stadtfotografien eine neue Bedeutungsstruktur entwickelt, die den einzelnen Motiven an sich fremd ist, arbeitet Ingeborg Knigge in »I-scapes« 1 direkt mit der Montagetechnik. Es werden immer zwei Bilder aneinander gesetzt, immer auf Stoß neben- oder untereinander montiert. In »I-scape Nr.1« wird links der Weg über einen Zebrastreifen auf die gegenüber liegende Straßenseite gezeigt. Die Straße führt horizontal durch das Bild. Funktionale Zusammenhänge gleiten ins Absurde, denn die Fahrbahn führt direkt gegen die Mauer eines Brückenkopfes. Die Brücke selbst endet in einer ähnlichen Sackgasse. Gleichwohl spielt Ingeborg Knigge hier mit den Erfahrungen des Betrachters. Jeder kennt die beklemmende Situation, einer zu durchschreitenden Bahnunterführung. Es sind Wege, die zu gehen gelegentlich einer Mutprobe gleich kommt. Es sind diese unendlich vielen, namenlosen, aber typischen Allerweltsecken, die es in jeder Stadt gibt. Ähnlich die Treppe in »I-scape Nr.2«: Im oberen Teil verbindet sie ein höher und ein tiefer gelegenes Brüsseler Stadtviertel miteinander. Im unteren Teil biegt die Treppe in einem Bogen nach rechts ab. Einzig der Perspektivwechsel von der Untersicht in die Aufsicht, lässt erkennen, dass es sich um zwei verschiedene Aufnahmen an unterschiedlichen Orten handelt. Knigge hebt die Einheit von Zeit und Ort in der Fotomontage auf. Sie verweist damit auf eine Typologie der Stadtbilder. Es wird deutlich, wie stereotyp verschiedene Orte in ihrer Erscheinung sind, und obwohl jede fotografische Aufnahme an eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort gebunden ist, wird in Knigges »I-scapes« eine neue allgemeine Aussage konstruiert. Darin ähnelt »I-scapes« der Serie »La chasse«, die technische Umsetzung differiert. Ingeborg Knigge unterzieht den Dokumentarcharakter der Fotografie einer Kritik, ähnlich wie sie Reinhard Matz 1981 formulierte:

»Dem durch die fotografische Technik begründeten Dokumentarismusbegriff wird Vorschub durch das allgemeine Vertrauen geleistet, das in der bildlichen Analogie sich keine fremden Bedeutungen einnisten könnten und die Fotografie somit ein Widerstandspotential gegen Ideen aufzurichten imstande sei. [...] Es ist dies das erstaunliche Paradox der Fotografie: Gerade sie, die doch wie nichts anderes beliebige Zersplitterungen der Welt setzt, wird bemüht, substantielle Gewissheiten zu stiften. Geradezu besessen von der Materialität und unserer Aneignungsfähigkeit der Objekte werden die spezifische Perspektivität einer Fotografie und das sie leitende Interesse verdrängt.«2
Knigge beweist, dass sich sehr wohl »fremde Bedeutungen« in jeder Fotografie einnisten können. Ihre »I-scapes« haben etwas mit Flucht zu tun, einer Flucht aus der Zersplitterung der Welt in die Konstruktion einer neuen Wirklichkeit. Knigge führt Weltsplitter zusammen, die nicht zusammen gehören. Sie verwirrt die Erinnerung, zertrümmert das als fundamental geltende, gegenseitig abhängige, fotografische Verhältnis von Zeit und Ort.


Seit 2003 verfolgt Ingeborg Knigge eine neue Serie. Sie fotografiert Hauseingänge. In ihren Bildern ist die entsprechende Hausnummer immer sichtbar. Das Ergebnis sind Architekturansichten, Bilder architektonischer Gestaltungen an Haustüren, die den Erwartungen an Hochkultur zunächst widersprechen. Es sind die Aushängeschilder der Besitzer und der Bewohner. Gerade Hauseingänge werden in dem Bewußtsein gestaltet, der Öffentlichkeit einen eigenen Begriff von Ordnung und Schönheit zu vermitteln. Sie werden geschmückt mit Blumen, Fliesen, Wandverkleidungen und Spezialgläsern, deren Herkunft oftmals weniger in Fachwerkstätten, als vielmehr in Baumärkten zu suchen ist. Dennoch handelt es sich nicht um die Darstellung des »barbarischen Geschmacks«3 um die Praxis einer illegitimen Schönheit allein. Ingeborg Knigge geht es eher um eine Bestandsaufnahme, um einen repräsentativen Querschnitt. Sie nähert sich in ihren Fotografien der Ästhetik einer jeden Haustür mit einer positiven Grundhaltung, geradezu liebevoll. Sie widmet sich den »Hausnummern« mit einer fotografischen Sorgfalt, wie man sie etwa von einem Dokumentarfotografen bei einer denkmalpflegerischen Erfassung erwartet. Ingeborg Knigge diversifiziert das Normale, das in der Regel keine öffentliche Bildwürdigkeit genießt, präpariert Flächen- und Raumeffekte heraus, indem sie die Lichtführung und Schattenbildung nutzt. Sie zeigt, dass Normalität keine Einheit bildet. Sie fotografiert grundsätzlich nur nummerierte Eingänge. Rathäuser, Kirchen, oder Schlösser haben keine Hausnummer. Ingeborg Knigge komprimiert ihre Bilder zu Aussagen, die auf Form und Schönheit konzentriert sind. Sie werden zu Bildern derer, die hinter den Türen leben und nicht zu sehen sind. Sie nennt allein Nummern, befreit sie aus dem Kontext, nennt weder Straßen noch Namen. Nummern steigern den Eindruck von Anonymität und dies erinnert an den Terminus »anonyme Skulptur« von Bernd und Hilla Becher.4 Die Nummern illusionieren eine Ordnung, während sie selbst ihres ordnenden und kontrollierenden Zweckes enthoben werden.

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1 Die Künstlerin impliziert mit dem Titel ein Wortspiel, das sich auf die Flucht (I escape) bezieht. Das Präfix »I« erinnert lautmalerisch an das englische Wort für »Auge«.
2 Reinhard Matz: Gegen einen naiven Begriff der Dokumentarfotografie, in: European Photography, vol.2, Nr. 6, 1981, zit. n. Wolfgang Kemp: Theorie der Photographie IV 1980-1995, München 2000, S. 94-105, hier S. 96.
3 Der Terminus stammt von Pierre Bourdieu. S. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1982.
4 S. Bernd und Hilla Becher, Anonyme Skulpturen, Düsseldorf 1970.