Ingeborg Knigge   Katalogtext zur Ausstellung im Haus der Stiftung Demokratie

Interieur und Landschaft zwischen Spur und Aura

Fotografien von Ingeborg Knigge

Matthias Bunge

»Spur und Aura. Die Spur ist Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ. Die Aura ist Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft. In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser.«

Walter Benjamin*

Der Titel der Ausstellung Schwarzweiß und Farbe ist sehr minimalistisch. Erwarten doch den Betrachter eine Vielzahl fotografischer Bilder, die sich nicht nur dadurch unterscheiden, dass sie bunt- oder neutralfarbig erscheinen, sondern sie zeigen auch unterschiedliche Sujets. Zwei Bildgattungen, die die Fotografie in der Tradition der Malerei stehend fortführt, treffen hier aufeinander und treten in einen spannenden Dialog: Interieur und Landschaft.

Bilder von Innenräumen hängen im Wechsel mit Bildern von Außenräumen. Beiden gemeinsam ist, dass Menschen an diesen Orten keinen Platz finden. Die schwarzweißen Interieurs sind ohne ihre menschlichen Bewohner dargestellt, zeigen aber deren Spuren in Form der häuslichen Verrichtungen waschen, bügeln, putzen, stopfen, usw., die gerade erledigt worden sind, gemäß der Losung Have you done your duty? Innenraumbilder und die Gattung der Genremalerei durchdringen sich. Genre - das bedeutet soviel wie die bildliche Darstellung mehr oder weniger banaler Alltagsrealität. Das »graue« tägliche Leben, mit seinen immer wiederkehrenden Pflichten und Aufgaben, gewinnt aber im fotografischen Blick der Künstlerin ästhetische und damit auch ethische Qualitäten. Es geht letztlich um die Frage nach dem Sinn der menschlichen Existenz.1 Diese ist, wie jeder weiß, notwendigerweise gebunden an die Grundlage der Natur, die in der abendländischen Bildgeschichte seit Giotto ein zentraler Gegenstand der Gestaltung ist. Dass die Künstlerin für ihre Landschaftsbilder ein großes Format und das Medium der Farbfotografie wählt ist nicht Zufall, sondern hat seinen Grund in der Natur der Sache. Denn gerade im Gestaltungsmittel »Farbe« bekundet sich die »Verankerung von Kunst in der Natur«.2 Goethe hat in seiner »Farbenlehre« den prinzipiellen Zusammenhang von Farbe, Hell und Dunkel mit den Erscheinungen der Natur und ihrer Verbildlichung beschrieben: »Wir sagten: die ganze Natur offenbare sich durch die Farbe dem Sinn des Auges. Nunmehr behaupten wir ..., dass das Auge keine Form sehe, indem Hell, Dunkel und Farbe zusammen allein dasjenige ausmachen, was den Gegenstand vom Gegenstand, die Teile des Gegenstandes voneinander, fürs Auge unterscheidet. Und so erbauen wir aus diesen dreien die sichtbare Welt und machen dadurch zugleich die Malerei möglich, welche auf der Tafel eine weit vollkommener sichtbare Welt, als die wirkliche sein kann, hervorzubringen vermag.«.3

Was Goethe hier für das Bild der Tafelmalerei erkannte, gilt dies auch noch für das technische Bild der Fotografie?4 Das Authentizitätsversprechen, das der Lichtbildnerei seit ihrer Erfindung als maßgebliches Wesensmerkmal eignet, beantwortet die Frage positiv. Doch trotz dieser sogenannten Wirklichkeitsreferenz des Mediums gibt es nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.5 Auch das fotografische Bild transformiert das Abgebildete in ein Produkt der Imagination. Das Lichtbild entspricht nach wie vor der bildkonstituierenden Relation von Urbild und Abbild, von Idee und sichtbarer Gestalt. Diese »ikonische Differenz« ist ein wesentliches Charakteristikum des Bildes als Artefakt, einerseits ein materieller Abdruck zu sein und andererseits einen »Sinn aufscheinen« zu lassen, der »zugleich alles Faktische überbietet«6 , und der nur im Bild und sonst nirgends zu erfahren ist.

Die Fotografie als älteste der neuen Medien hat schon eine 170-jährige Geschichte aufzuweisen und sie stand in dieser Zeit in einem ständigen Dialog mit der Malerei und später dem Film.7 Während die Malerei des 20. Jahrhunderts ihr innovativstes Potential in der abstrakt-konkreten Gestaltung entfaltet hat, übernahm die Fotografie die alte Aufgabe, die Welt mimetisch abzubilden. Ja es war ihr historischer »Auftrag«, exakte, naturgetreue Abbilder der sichtbaren Welt zu gewinnen.8 Doch längst ist das Lichtbild zu einem autonomen Medium avanciert, das nicht nur schlichte Abbilder, sondern auch »Sinn-Bilder« und »Strukturbilder« zu generieren vermag, wie Schmoll gen. Eisenwerth das Spektrum der Fotografie beschrieben hat. Strukturbilder sind »nutzlose Bilder«, ohne praktische Verwendbarkeit, in denen es »vielmehr um künstlerische Experimente mit den Mitteln der Fotografie« geht.9

Mit diesem Instrumentarium ist es möglich, die Interieurs und Landschaften näher in den Blick zu nehmen. Die kleinformatigen, schwarzweißen Interieurs sind seriell zu Bildfriesen gereiht. Fast jeden Tag fotografiert die Künstlerin eine häusliche Pflichtaufgabe, notiert Datum, laufende Nummer und Bildtitel. Die hier repräsentierten Aufnahmen datieren in das Jahr 1995 und messen 9x13 cm. In wenigen Bildern finden die Arbeiten im Außenraum statt. Das Foto Sanddornbeeren gepflückt (Nr. 1284) zeigt das Ergebnis einer Beerenlese im Garten. Der Blick fällt von oben auf eine kreisrunde Metallschüssel, die mit Beeren gefüllt ist. Der Henkelbecher, der zum Einsammeln gedient hat, liegt auf den kugeligen Früchten auf. Der Lichtkranz der idealen Kreisform behauptet sich kontrastvoll zum unregelmäßigen Durcheinander von Grashalmen und Kleeblättern, die den Boden bedecken. Die geometrische Grundform zentriert die untere Bildhälfte und gibt Hinweis auf den Standort der Fotografin, die der bildhohen Hecke gegenüber steht. Das schwarze Geäst bildet ein lineares Gewebe aus, das die weißgrauen schmalen Blätter wie Gefieder trägt. Im Gegensatz zur Detailschärfe dieser mittleren Bildzone erscheinen im Hintergrund verschwommen zwei Häuser.

In diesem kleinen Foto ist das Thema der Ausstellung, der Dialog zwischen Schwarzweiß und Farbe, Innenraum und Außenraum, Interieur und Landschaft, Nähe und Ferne, Kultur und Natur angestimmt. Zwischen Schwarz und Weiß vermitteln viele Graustufen, die der farbigen Vielfalt der Natur auf der Spur sind und diese in eine Hell-Dunkel-Struktur umsetzen. So wird das natürliche Vorbild in diesem Abbild ein gutes Stück weit abstrahiert und im Lichtbild entmaterialisiert. Wie die Malerei so ist auch die Fotografie ein Mittel zur Erkenntnis der Natur, die in der Polarität von Licht und Finsternis, Tag und Nacht ihren ewigen Lebensrhythmus findet. Die Fotografie ist ein technisches »Verfahren, das sich der Naturkraft Licht bedient« und das Licht ist die »Seele« des fotografischen Bildes.10

Wechseln wir den Blick zum großformatigen Wiesenstück, eine Farbfotografie der Maße 75x50 cm, begegnet uns der farbige Reichtum der Natur in Nahaufnahme, wie eine Vergrößerung aus dem eben besprochenen Bild. Saftige Grüntöne, die ins Gelbliche modulieren, scheinen auf vor einem schattigen Grund. Die Blätter erheben sich über dieser dunklen Raumfolie als zungenförmige, rundliche Flächengebilde in der rechten Bildhälfte, während auf der linken Seite spitz zulaufende Blättchen Dreiecksformationen ausbilden. Dazwischen durchdringen sich grüne Gräser und gelblichbraune Grashalme zu einer informellen Struktur linearen Charakters, die durch braune Blätter, verteilt über das ganze Bildfeld, aufgelockert wird. Grün ist die Farbe der lebendigen Natur, des vegetativen Seins. Im Grün durchdringt sich die Polarität von Licht und Finsternis und so entsteht eine Farbe von »innerem Gleichmaß, in der sich die phänomenale Wirkung eines zum Gelb durch die Finsternis ›hinabgetrübten‹ Lichtes und einer durch das Licht ›aufgeblauten‹ Finsternis im ontisch wesenhaften Grunde vereinigt«11

Wie dem Grün, so kommt auch der Naturfarbe Braun eine vermittelnde Funktion zu. Die Farbe »der mütterlichen Erde, des saftleitenden Holzes, der schützenden Knospe« besitzt nur geringste eigene Lichtenergie, denn sie entsteht aus der Mischung von rot und schwarz und nimmt so eine Mittelstellung zwischen Tod und Leben ein. Nicht zufällig ist braun die Farbe des getrockneten Blutes. In der Farbenordnung vermittelt sie zwischen den bunten und unbunten Farben.12

In dem natürlichen Zusammenklang von Braun und Grün im Wiesenstück ist also die Farbtotalität der Primärfarben gelb, rot und blau mit enthalten. So wundert es nicht, dass in der niederländischen Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts dem Braun und diversen Grüntönen eine bildkonstituierende Rolle zukam, die im Widerstreit mit Hell und Dunkel eine Weltlandschaft erschaffen konnten. Wie die Titel Wiesenstück, Waldstück oder Bodenstück aber schon besagen, geht es in den Landschaftsfotografien nicht mehr um »Weltlandschaften«, wie wir sie von Rubens, Rembrandt, van Goyen u.a. kennen, sondern um klar begrenzte Ausschnitte, Stücke aus der Natur, die uns Details wie Wurzeln, Baumstümpfe, Stämme, Pfützen und Blätter nahe bringen. Die Dinge der Natur erscheinen wie unter die Lupe genommen. Ein bekanntes Beispiel aus der Kunstgeschichte für eine solche Sichtweise der Natur ist Albrecht Dürers kolorierte Zeichnung Das große Rasenstück, 1503, Wien, Albertina. Sie bezeugt das »Äußerste an mikroskopischer Beobachtung«, mit der der Maler der Natur zu Leibe rückt.13 Er will die Form der chaotisch wachsenden Pflanzen möglichst genau erfassen und in ihre Natur eindringen. Dazu legt er sich auf den Boden, wählt keine Perspektive von oben, sondern von unten. In der bekanntesten Stelle seines Ästhetischen Exkurses schreibt Dürer: »Aber das Leben in der Natur gibt die Wahrheit dieser Dinge zu erkennen. Darum sieh sie fleißig an, richte dich danach und gehe nicht nach deinem Gutdünken von der Natur ab, in der Meinung, du könntest selbst aus eigenem Vermögen das Bessere finden. ... Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur, wer sie herausreißen kann, der hat sie.«14 Herausreißen, d.h. zeichnen nach der Natur gewährt eine möglichst exakte Wiedergabe derselben als Hauptziel der Kunst. Genau diese Intention und Aufgabe treibt die Fotopioniere des 19. Jahrhunderts an. Niépce und Daguerre arbeiten nach dem Motto »... ohne Mitwirkung eines Zeichners, die Ansichten, die die Natur bietet, festzuhalten ... «. Fox Talbot sieht seine photogenic drawings- durch Licht entstandene Zeichnungen - bereits als den alten Bildmedien überlegen an. »Das mit der Hand gezeichnete Bild kann sich nicht messen mit der Wahrheit und Treue, mit der das Bildnis mit Hilfe des Sonnenlichtes erzeugt wird. The Pencil of Nature,der Zeichenstift der Natur, mit diesem Titel feiert Talbot die Fotografie als zweite Natur.15

Heute ist klar, dass eine Fotografie nicht naturgetreuer ist als ein Aquarell Dürers. Das fotografische Bild abstrahiert und illusioniert nicht weniger als die Malerei. »Die Objektivität, die so leichthin der fotografischen Aufnahme zugebilligt wird, ... ist stets trügerisch. Die Welt ist nicht ›wirklich‹ zweidimensional und papieren.« Die Bildlichkeit der Fotografie ist der Malerei »näher verwandt als dem realen Vorbild«16 Diese These bewahrheitet sich angesichts der Interieurs und Naturaufnahmen, die jetzt wieder in den Blick rücken. Die Fotografin interpretiert die Motive, die sie mittels der Kamera aufnimmt. Die Foto-Bilder sind komponiert, denn sie rücken die dargestellten Gegenstände im gewählten Ausschnitt und durch die ausgesuchte Perspektive so zurecht, dass von einer künstlerischen Gestaltung zu sprechen ist. Ein Vergleich zwischen dem Baumstück und dem Bild Kleid gebügelt (Nr.1285) macht dies deutlich. Als Bügelunterlage dient die Steinplatte eines Gartentisches, der ausgehend von der linken unteren Ecke diagonal ins Bildfeld ragt. Eine rechtwinklige gemauerte Bank verläuft parallel zu den Tischkanten und bildet in der Schattenzone eine nach rechts weisende Spitze aus. Die darüber liegende Ecke des Tisches ist von der gestalteten »Landschaft« des Kleiderstoffes verhüllt, der über die Tischkante hinabfließt. Die plastischen Hängefalten enden in einer Kurvatur, die das auf dem Boden liegende Geschlinge des schwarzen Verlängerungskabels berührt. Dieser verschatteten Ecke korrespondiert das strahlend weiße Tuch, das mit einer doppelten Spitze nach links ausgerichtet ist und auf das senkrecht stehende Bügeleisen aufmerksam macht, das uns seine glänzende Unterseite zuwendet. Das Kabel ist kunstvoll verschlungen - es formt genau mittig eine stehende Acht aus - und diese schwarze Lineatur kontrastiert mit ihrem weißen Grund und tangiert das mittlere Grau des Stoffes, der als geplättete, zweite Haut des Menschen fungieren wird.
Das Baumstück zeigt in kurzer Augendistanz die Detailaufnahme eines Baumfußes, der von Kleeblättern umsäumt ist. Der Darstellungswert der Fotografie tritt zurück zugunsten ihres Eigenwertes, der die Struktur der Baumrinde in den Bildvordergrund rückt. Die Oberflächenbeschaffenheit der Partie, die der Blick der Fotografin ausgewählt hat, ist so geartet, dass sich die braungraue Baumhaut über der nach vorne ausgreifenden dicken Wurzel aufstaut, horizontale Falten schlägt, die von senkrechten Rissen durchbrochen werden. Assoziationen an eine alte Elefantenhaut stellen sich ein. Animalische und vegetabilische Wesensmerkmale sind vereint. Zarte junge grüne Blättchen und raue alte graubraune Haut visualisieren die unterschiedlichen Lebenszeiten der Pflanzen.

Ein anderes Bildpaar macht formale Analogien zwischen Mensch und pflanzlicher Natur augenfällig: Badeanzug repariert (Nr.1286) und das Bodenstück. Der Blick fällt von oben auf einen dunklen, horizontal gestreiften, organisch gefalteten Badeanzug, dessen plissierte Struktur an die eben beschriebene Baumrinde erinnert. Er durchmisst die Bildfläche in diagonaler Ausrichtung, wie auch die silbergrauen astartigen oberirdischen Wurzeln, die den Waldboden zwischen einer grün bemoosten Steinformation und braunem Laub überlagern. Die Schichten des Steins deuten gegenläufige Diagonalen an, so wie die Fugen der rechteckigen Bodenplatten von links unten nach rechts oben verlaufen. Eine Punktsaat - es könnten erste Regentropfen sein - überspielt die strenge Geometrie des Fugenschnitts wie verstreutes Laub. Der Badeanzug als leere Hülle des menschlichen Körpers erscheint als Torso, an dessen Enden sich schleifenförmige Bändchen abspreizen - Reminiszenzen menschlicher Gliedmaßen. Unübersehbar anthropomorph ist das Wachstum des Wurzelwerkes: ein hingestreckter femininer Corpus mit gespreizten Beinstümpfen, angedeuteter Leistenlinie und Nabel. Die organische Figuration taucht plastisch aus dem amorphen Laubbett auf. Das lichte Grau der Rinde, das warme Braun der Blätter und das weiche Moosgrün harmonieren. Hier steckt die Kunst in Form einer plastischen Figur tatsächlich in der Natur. Das fotografische Auge legt das objet trouvé gleichsam frei, macht es im Bild wirklicher als es in der Realität ist und das obwohl das »Antlitz der Natur ... auf eine Formel allergeringster stofflicher Konsistenz gebracht, zum Licht-Bild sublimiert« wird.17

Wie Ernst Kallai erkannt hat, fehlt der Fotografie im Unterschied zur Malerei die haptische Faktur, d.h. wir sehen nicht wie beispielsweise im Impressionismus, dass das Bild aus pastoser Farbmaterie gemacht ist. »Auch die Farbfotografie kann nur ein stofflich neutrales Lichtbild der Natur sein.«18 Aber dennoch vermag sie es, den Schein der Wirklichkeit in großer Eindringlichkeit zu erreichen. Für Moholy-Nagy jedoch war Faktur nicht gleichzusetzen mit Tastwert: »durch einen chemischen Prozess bilden sich die feinsten Tonabstufungen in einer homogenen Schicht. das grobkörnige Pigment verschwindet, es entsteht die Lichtfaktur.«19

Das materielle Substrat der Fotografie setzt sich aus glattem Papier und chemischen Substanzen zusammen. Allein schon deshalb ist sie kein Double der Realität, sondern das fotografische Bild genügt jenen artifiziellen Bedingungen, die Boehm als »ikonischen Kontrast« bezeichnet. Ein Bild ist »zugleich flach und tief, opak und transparent, materiell und völlig ungreifbar«. »Ein starkes Bild lebt aus eben dieser doppelten Wahrheit: etwas zu zeigen, auch etwas vorzutäuschen und zugleich die Kriterien und Prämissen dieser Erfahrung zu demonstrieren. Erst durch das Bild gewinnt das Dargestellte Sichtbarkeit, Auszeichnung, Präsenz.«20 So verfügt das künstlerische Bild über eigene Sinnpotentiale, die sich nur der aufmerksamen und eindringlichen Betrachtung erschließen. Um die geschilderte ikonische Spannung eines Bildes erkennen zu können, ist es notwendig, die einzelnen Fotografien möglichst genau auf ihre Gestaltung hin zu analysieren und mit anderen zu vergleichen. An drei ausgesuchten Bildpaaren ist das hier versucht worden und es können abschließend nur noch einige Hinweise auf interessante Konstellationen von Interieur und Landschaft gegeben werden.

Häuschen geputzt (Nr.1288) und Waldstück sind Fotografien, die zu ganz unterschiedlichen Zeiten und an gegensätzlichen Orten entstanden sind. Das frisch geputzte Ambiente eines aufgeräumten Ferienhauses und ein Stück chaotischen Waldbodens mit Astresten in allen Zuständen des Vermoderns scheinen auf den ersten Blick nichts gemein zu haben. Achtet man allerdings auf die Anordnung der Gegenstände auf der Bildfläche, sind Gemeinsamkeiten auffallend. Dem Rund der vermoosten Schnittfläche des Baumstumpfes in der Natur entspricht die Schüssel mit dem Putzwasser. Dem diagonal auf den Fliesen liegenden Schrubberstiel ist der nach rechts gerichtete Baumstamm vergleichbar und dem senkrechten Durchblick in die Küche der stehende Baum.

Diese formalen Analogien belegen die komponierende Funktion des fotografischen Blickes. Ein letzter Bildvergleich macht dies deutlich: 3 Hemden gebügelt (Nr.1309) - Bodenstück. Auf der Rückenlehne eines Stuhles sind drei Hemden mit nach vorne fallenden Kragen übereinander gehängt. Die Augendistanz ist so nah gewählt, dass die parallel geführten Kurven der Kragen ein formales Eigenleben führen und zu einer plastisch aufgefächerten, abstrakten Raumhöhle mit schattigen Tiefen werden.
Das Bodenstück zeigt das im welken Laub liegende, zerbrochene Skelett eines Baumes, dessen Stamm als fallende Diagonale die Bildfläche durchzieht. An diesem Rückgrat setzen parallel gebogene Äste wie Rippen oder Gräten an. Erinnerungen an das verwesende Knochengrüst eines verendeten Tieres stellen sich ein. Diese inhaltlichen Anmutungen sind das eine, die formale Struktur ist das andere. Auch in diesem Fall geht die Fotografin so nah mit der Kamera an das Objekt heran, dass das natürliche Zusammenspiel von Chaos und Ordnung das Inhaltliche überlagert. Die linearen Strukturen der graubleichen Äste geben Halt in der chaotischen Vielheit des hellbraunen Laubes. Die Entwicklung der Fotografie vom Abbild zum Strukturbild ist offensichtlich. Aber was ist mit dem Sinnbild? Unter Zuhilfenahme zweier Künstleräußerungen wird auf einen möglichen Deutungsrahmen hingewiesen.
»Die Zwiesprache mit der Natur bleibt für den Künstler conditio sine qua non. Der Künstler ist Mensch, selber Natur und ein Stück Natur im Raume der Natur.«21 Paul Klees berühmtes Diktum stellt den Menschen nicht über die Natur sondern in die Natur und betont die notwendige Einheit. Der Baum ist ein Außenorgan des Menschen, das er zum Leben braucht.

Jackson Pollock, an dessen malerische »All-Over«-Struktur manche Wiesen-und Bodenstücke erinnern, sagte: »I'm nature.« Im »Action-Painting« überträgt er seine natürliche Lebendigkeit auf das große Bildfeld. Vor dieser unüberschaubar großen, scheinbar chaotischen Natur muss sich der Betrachter behaupten.22

Ingeborg Knigges fotografische Bilder der Natur haben nichts mit der »Normalfotografie« zu tun, die wir im Urlaub praktizieren, um besonders schöne Landschaften festzuhalten. Dem ästhetischen Spiel des Sonnenlichtes verweigert sie sich und fotografiert bei bedecktem Himmel nicht formvollendete Blüten, sondern graue Baumstämme, so wie in den Interieurs nicht dekorative Möbel, sondern Besen und Kühlschrank aufgenommen werden. Die »Aura« dieser unterschiedlichen Bildgegenstände ist vergleichbar. »Jedes fotografierte Objekt ist nur die Spur, die das Verschwinden vom allem anderen hinterlässt.« Deshalb, so schreibt Jean Baudrillard, steht die sinnliche Illusion seiner Erscheinung nicht im Widerspruch zur Realität. »Photographieren ist nicht, die Welt als Objekt zu nehmen, sondern sie zum Objekt werden zu lassen, ihre Alterität, die unter ihrer vorgeblichen Realität vergraben ist, freizulegen, dieses Objekt wie einen attracteur étrange hervortreten zu lassen und diese seltsame Attraktionskraft in einem Bild festzuhalten.«23

Wie schon anfangs bemerkt, tauchen in beiden Bildgattungen keine Menschen auf. Wir sehen nur ihre Spuren, die sie hinterlassen haben: gebügelte Kleider, gefällte Bäume, usw. Warum sind die Menschen in diesen und aus diesen Bildern verschwunden? »Die Menschen sind zu sentimental. Selbst die Tiere, die Pflanzen sind zu sentimental. Nur die Objekte haben keine sexuelle oder sentimentale Aura. Es braucht also keine kaltblütige Vergewaltigung, um sie zu photographieren.«24

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* Das Passagen-Werk (entstanden 1927-1940). »Das ist im Kern die Formulierung des Fotografischen als besondere erkenntnistheoretische Kategorie, wie sie seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ausgebildet worden ist.« Bernd Busch: Fotografie / fotografisch, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in 7 Bde., Stuttgart, Weimar 2000, Bd. 2, S. 526.
1 Matthias Bunge. Das fotografische Bild - ein Medium der Erinnerung. Überlegungen zu den Fotografien Ingeborg Knigges, in: Ingeborg Knigge. Have you done your duty. Nachtrag (Beilage) zum Katalog: Ausstellung im Museum Illingen vom 26.8. bis 23.9.2001, Saarbrücken 2002, S. 7-18.
2 Lorenz Dittmann: Farbgestaltung und Farbtheorie in der abendländischen Malerei, Darmstadt 1987, S. 328.
3 Zitiert nach ebenda, S. 329.
4 Matthias Bunge: Bildkategorien in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Begriffliche Eingrenzungsversuche angesichts des entgrenzten Bildes, in: Dietfried Gerhardus (Hg.): Das entgrenzte Bild, Saarbrücken 2001, S. 46-58.
5 Paul Klee: »Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.« Schöpferische Konfession, in Paul Klee: Kunst-Lehre. Aufsätze, Vorträge, Rezensionen und Beiträge zur bildnerischen Formlehre, Leipzig 1991, S. 60.
6 Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild? München 1994, S. 29, 30.
7 Erika Billeter: Malerei und Photographie im Dialog. Von 1840 bis heute. Mit Beiträgen von J.A. Schmoll gen. Eisenwerth, Zürich/Bern 1977.
8 J.A. Schmoll gen. Eisenwerth: Zum Spektrum der Photographie. Abbild, Sinn-Bild und Bildstruktur, in: S.g.E.: Vom Sinn der Photographie, München 1980, S. 236-244.
9 J.A. Schmoll gen. Eisenwerth: Nutzlose Bilder?, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, Bd. 9/10, München 1990, S. 533-547.
10 Schmoll gen. Eisenwerth, wie Anm. 8, S. 238, 232.
11 Hedwig Conrad-Martius: Farben. Ein Kapitel aus der Realontologie, in: Festschrift Edmund Husserl zum 70. Geburtstag. Ergänzungsband zum Jahrbuch für Philosophie und Phänomenologische Forschung, Halle an der Saale, 1929, S. 339-370, Zitat S. 367.
12 Ebenda, S. 365. Und Eckhart Heimendahl: Licht und Farbe. Ordnung und Funktion der Farbwelt, Berlin 1961, S. 67ff.
13 Erwin Panofsky: Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers, Hamburg 1977, S. 107, Abb. 135a.
14 Ebenda, S. 371.
15 Zitiert nach: Jutta Hülsewig-Johnen: Bildautonomie. Fotos aus neuen Welten, in: J. H.-J., Gottfried Jäger, J.A. Schmoll gen. Eisenwerth: Das Foto als autonomes Bild. Experimentelle Gestaltung 1839-1989, Stuttgart 1989, S. 11.
16 J. Hülsewig-Johnen, ebenda, S. 12.
17 Ernst Kallai: Malerei und Fotografie (1927), in: Wolfgang Kemp: Theorie der Fotografie II, 1912-1945, S. 115.
18 Ebenda, S. 115.
19 Ebenda, S. 126.
20 G. Boehm, wie Anm. 6, S. 35.
21 P. Klee, wie Anm. 5, S. 67.
22 Walter Kambartel: Jackson Pollock. Number 32. 1950. Werkmonografien zur Bildenden Kunst Nr. 139, Stuttgart 1970. Pollocks Bild misst 269x457,5 cm.
23 Jean Baudrillard: Denn die Illusion steht nicht im Widerspruch zur Realität ..., in: Hans Belting und Dietmar Kamper: Der zweite Blick. Bildgeschichte und Bildreflexion, München 2000, S. 264, 265.
24 Ebenda, S. 268.