Ingeborg Knigge   Rede zur Ausstellung im Museum Illingen

Man tut etwas. Und es ist etwas.

Die Fotoarbeiten von Ingeborg Knigge als Beitrag zur Nachhaltigkeit.

Sabine Graf

»Viel Galgenhumor steckte hinter den Streichen, welche die Kinder sich selbst spielten. Den Sport der zerrissenen Strümpfe zum Beispiel, den sie gerade in diesen Tagen trieben.[...] Große Löcher wurden von diesem Tag an Trumpf. Hier hielt Gervaise den Rekord: wenn sie mit Schwung einen Schuh von sich warf, gab’s was zu lachen: an den Zehen nicht ein heiler Fleck, die Ferse zum mindesten durchgestoßen.«

Ich erinnere mich noch sehr gut an die filmische Version dieser Szene aus Annette Kolbs Roman Die Schaukel, in dem sie ihre Erinnerungen an die Kindheit in München literarisch verarbeitet hat. In der Verfilmung von Percy Adlon zieht allerdings die ganze Familie ihre Schuhe aus, um zu überprüfen, wer wenn nicht die meisten Löcher, so doch das größte Loch im Strumpf hat. Diesen Wettstreit gewinnt die Mutter und Hausfrau locker. Sie hat den größten Riss im Strumpf.

»Das unverzügliche Ausbessern schadhafter Stücke war doppelt wichtig, wie Frau Brosowski schildert,« schreibt die saarländische Historikerin Bärbel Kuhn in ihrem Buch Haus Frauen Arbeit - 1915 bis 1965 und referiert im Folgenden die Konsequenzen aus dem Nichtbefolgen dieses hausfraulichen Imperativs: »Zum einen galt eine Frau als Schlampe, wenn sie es versäumte, abgerissene Knöpfe sofort anzunähen und diese stattdessen durch Sicherheitsnadeln zu ersetzen oder den Ehemann und die Kinder mit durchlöcherten Strümpfen herumlaufen ließ. Zum anderen wurde eventuelle Nachlässigkeit spätestens am nächsten Waschtag entlarvt, wenn die Wäsche auf der Leine den kritischen Blicken der Nachbarinnen ausgesetzt war: Ein kunstgerecht angebrachtes Flickstück zeugte vom Können der guten Hausfrau, erinnert sich Frau Brosowski und Frau Welsch ergänzt: Geflickte oder gestopfte Kleider zu tragen, war nicht schlimm, aber es musste schön geflickt oder gestopft sein, nicht zusammengezogen.«

Strenge Sitten wie man hört und liest. Sicher der Rang einer »Schlampe« in diesen Tagen all’ den Frauen, welche diesen Verhaltenskodex ignorierten. Doch das tat, jede Wette keine, die in einem überschaubaren Zusammenhang, einem Dorf oder einer Kleinstadt lebte und auf die Gemeinschaft angewiesen war. Mutter Lautenschlag aus München hingegen konnte sich über die bestehenden Anforderungen an sie als Hausfrau hinweg setzen. Sie komponierte, erzählt Annette Kolb in ihrem Roman, stattdessen lieber. Diese Mutter hatte etwas, das sie dem Alltag entgegen setzen konnte. Deshalb konnte sie ihre Interessen verschieben, und ihr Selbstverständnis neu definieren. Sie hat etwas gestaltet, sich ihre Rolle so gewählt, dass sie für sie passend war. Ihm Grunde hat sie etwas ganz Gesundes getan: Sie hat sich ihr Leben so eingerichtet, dass es ihr Spaß machte. Nicht anders Frau Brosowski oder Frau Welsch. Für sie war es ein erstrebenswertes Ziel, Qualitäten wie die folgenden sich zu erwerben. So warst du eine »gute Hausfrau«, wenn du »an einem Tag eine Muhl voll Brot backen, eine Bütt Wäsche waschen, trocknen und bügeln kannst und auch noch ein Herrenhemd nähen kannst, dann bist du fleißig und tüchtig und heiratsfähig.« Mag sein, dass sich diese Normen einfach ungefragt übertrugen und die Entscheidung für oder gegen sie, nicht immer möglich war.

Wählen oder gestalten können, braucht eine Reihe von notwendigen Bedingungen, über die nicht jeder von vorneherein verfügt. Eine Folge dieser verhinderten Wahl ist dann das, was so gerne Kunst genannt wird, aber im Grunde nur Ausdruck eines großen Unglücklichseins ist: Dann, wenn das Heim zum Kerker und die Hausarbeit zum Alp wird, den ich mir mit kreativen Aktivitäten zwischen Aquarell- und Acrylmalerei vom Hals schaffe. Die Ergebnisse kennt man und auf mich haben sie immer den Eindruck gemacht, als ob hier jemand den eigenen Kerker tapeziert, anstatt ihn niederzureißen. Sofern Kunst Alltag und damit auch Hausarbeit kompensiert, kann es immer nur gewaltig daneben gehen. Aber was ist nun, wenn Hausarbeit zur Kunst bzw. Gegenstand der Kunst wird und sich sozusagen Frau Lautenschlag und Frau Brosowski miteinander verschmelzen?

Kunst gibt sich damit einen Gestaltungsauftrag bezogen auf die tägliche Hausarbeit. Sie veredelt sie gleichermassen wie sie sie dokumentiert und damit als Handlung bewahrt. Die Fotografin strukturiert ihre künstlerische Arbeit durch die Hausarbeit. Die Notwendigkeit, daheim die Übersicht zu behalten und der Wunsch, dass alles wohl gestaltet ist, dienen zudem als Richtschnur. Sie gibt den als prinzipiell frei und damit offenen, verfügbaren Tagen eine Kontur. Hausarbeit wird erneut in Wert gesetzt. Allerdings nicht als zurecht kritisierte »Reproduktionsarbeit«. Das heißt, dass stets ein bestimmter Zustand wieder hergestellt wird. Eine Veränderung, Weiterentwicklung ist bei strenger Reproduktionsarbeit nicht vorgesehen. Also: Jeden Tag den Teppich saugen, damit er so aussieht wie am Vortag und nicht mit den beim Essen darauf gefallenen Brotkrümeln bedeckt bleibt. Jeden Tag das Geschirr spülen, damit es wieder sauber im Schrank steht. Man ist beschäftigt, einen einzigen Zustand immer wieder herzustellen. Doch sobald es um die Dokumentation der Hausarbeit geht, kommt Bewegung in dieses Auf- der-Stelle-treten. Mehr noch, der Kreis bricht auf und die Hausarbeit wird zum Indikator der eigenen Veränderung über die Jahre. Es ist keine Reproduktion mehr dessen, was hier geschieht. Der Blick verändert sich ja, da man sich selbst verändert. Indem die Fotografin ihren Haushalt fotografiert ist sie zu ihrem eigenen Thema geworden.

»Geschlafen, aufgewacht, geschlafen, aufgewacht, elendes Leben,« notierte Franz Kafka am 19. Juli 1910 in sein Quartheft. Das Leben also, zumindest das, was so zwischen Aufstehen und Zubettgehen abläuft, wird auch hier in den Fotografien verhandelt. Das Tagebuch verzeichnet es notwendig unspektakulär und dient doch deswegen der Selbstversicherung dessen, der das alles aufzeichnet. »Ich denke,« schreibt Eva Demski ihrem Kapitel Zettelchens Traum ihrer Frankfurter Vorlesung über das Tagebuch, »die völlige Unbekanntschaft mit der eigenen Existenz« (von der Thomas Mann in seinem Tagebuch-Eintrag vom 28. Mai 1934 schreibt) ist einer der wesentlichen Gründe, Tagebuch zu schreiben...« Ich lege Rechenschaft über das ab, was ich tue. Das muss nicht immer öde oder für andere uninteressant sein. »Wir erliegen den Wonnen der Langeweile wie denen des Abenteuers, und beides fällt im Tagebuch manchmal zusammen,« stellt Eva Demski fest und bringt zusammen, was stets zusammen gehört: Nämlich, die Gewissheit, dass das, was im Kleinen stimmt, auch im Großen funktioniert und daher die Geschichten oder Bilderserien immer ein Teil der Geschichte sind.

Dass die Wäscheklammern sich zu einem Patronengurt um die Hosentasche legen und in der blitzenden Stopfnadel das Verletzen und Vernetzen gleichermaßen steckt, ist ein treffliches Bild. Aber auch die ganz falsche Fährte. Nein, hier treten die Heldinnen der Arbeit ungenannt und unerkannt zum Showdown an. So stellt eine Frauenstimme aus den fünfziger Jahren, die Gerda Tornieporth in ihrem Buch Arbeitsplatz Haushalt verzeichnet hat, fest: »Die klügeren Frauen wissen, dass es nicht immer darauf ankommt, sich selbst so abzurackern. ... Die Welt ist nicht mehr die gleiche, die sie war, und die Helden der Arbeit sterben aus.«

Das Duell mit dem Bügeleisen in der Hand wird zum Schauspiel, aber es ist längst nicht mehr allgemein gültige Realität, wenn es Reinigungen gibt. Wäscheleinen verschwinden und werden durch Trockner ersetzt. Ein großes Angebot an Kleidung, erhöht die Konkurrenz, senkt die Preise und lässt einen die Frage, ob ich dieses oder jene Stück nun flicke oder stopfe oder wegwerfe und eine neues Stück kaufe leicht beantworten. Dazu mögen auch die wechselnden Moden beitragen. Was ich heute kaufe, ist übermorgen schon nicht mehr tragbar. Überlasse ich es daher willentlich dem nach dem von Brüssel bekannten Umgang mit Bausubstanz: Also, lasse ich die Dinge einfach zerfallen, stelle ich sie der sogenannten »Bruxellisation« anheim. Das Bewahren dieser Tätigkeiten im Foto setzt diese Handlungen des Alltags wieder in Wert: Für diejenige, die sie ausführt, in dem sie sie zur Kunst macht. Vor allem aber, in dem hier ihr Wert bewahrt wird, den sie allmählich verlieren. Ein Tagebuchschreiber befasse sich mit dem »gesellschaftlichen Spülsaum,« schreibt Peter Rühmkorf in seinem Tagebuch. Wie sehr er Recht mit dieser Beschreibung hatte, mag das hier allgegenwärtige fotografische Tagebuch belegen.

»Wir beschwören - oder retten - Orte - äußere und innere,« stellt Eva Demski derweil vom Tagebuchschreiben fest. Auch das eine Feststellung, die sich mit dem Projekt verbindet, das die anfallende Hausarbeit als obsolet werdende Tätigkeit bewahrt. Nichts anderes will das Tagebuch. Hören wir Eva Demski ein weiteres Mal: »Tagebücher sind papierne Speicher und Keller für Gegenstände. Sie sind Vorratshöhlen selbst dann noch, wenn die eigentlichen, die Häuser oder Wohnungen verloren gehen ...« Die Fotografien als visuelles Tagebuch erweisen sich als diese Speicher der Dinge und letztlich dessen, was denjenigen ausmacht, der sich mit ihnen umgibt. Sie sind gleichsam auch ein Ausdruck dessen, was allenthalben unter dem Stichwort »Nachhaltigkeit« zusammengefasst wird.

Das Bewahren und Erhalten von Dingen des täglichen Lebens oblag gerade in den fünfziger Jahren den Frauen in der Familie. Ihre »Ökonomietalente« wie es bei Bärbel Kuhn in ihrem Buch über die Hausfrauenarbeit zu lesen steht, waren gefragt. Im Grunde taten sie nichts anderes, als für Nachhaltigkeit zu sorgen. Das heißt, sie achteten darauf, dass nicht mehr verschwendet wurde, als Neues dazu kam. Kurz, sie bewahrten das, sagt man heute, »ökologische Gleichgewicht«.

Heute ist die Frage »Was hat mein Sockenstopfen mit dem Rohstoffverbrauch zu tun?«, angebracht. Energiebilanzen, der CO2-Verbrauch bei der Herstellung und dem Transport von Kleidung wird berechnet, der Verbrauch von Bodenflächen für den Anbau von Baumwolle oder das Weiden der Schafe wird beachtet: Jedes Zuviel ist schlecht. Bewahren, Weiternutzen, die Lösung. »Und wenn Sie Ihr beschädigtes Gewand flicken, sparen Sie Geld und zugleich Energie und Bodenfläche ein, rät eine einschlägige Fibel mit dem Titel Genuß und Nachhaltigkeit. Etwas zu bewahren, hat daher mehr als nur persönlichen oder künstlerischen Wert. Es geht darüber hinaus. Es umfasst im Grunde alles. Es schließt Vergangenheit und Gegenwart ein und schafft eine Option auf die Zukunft. Gerade in diesem Haus, das, wie es scheint, keine Zukunft mehr hat. Aber was es bedeuten kann, Dinge zu bewahren, indem man den Prozess dokumentiert, dem sie unterliegen, macht dieses Langzeitfotoprojekt deutlich.

© Alle Rechte liegen bei der Autorin. 26. August 2001