Wer spricht denn heute noch von Pflichten in der sogenannten Spaß- und Wegwerfgesellschaft? Die Fotografin Ingeborg Knigge nimmt völlig unzeitgemäß ihre selbstverordneten Pflichten ernst, ganz in dem von Immanuel Kant geprägten Sinn der begriffenen »objektiven Notwendigkeit« und entsprechend umgesetzten »Handlung aus Verbindlichkeit«. Nun ist Kant nicht gerade eine große Hilfe bei der Bewältigung von tagtäglichem heimischem Chaos und Knigge hat auch keine ausgeprägte Vorliebe für die sogenannten Verbindlichkeiten des Alltags. Genau deshalb hat sie für sich eine Methode ersonnen, die das tägliche Einer- und Allerlei häuslicher Aufgaben so strukturiert, dass sie ihr einerseits leichter von der Hand gehen und andererseits ein künstlerischer Foto-Kosmos entstehen kann.
Was erledigt ist, wird abgelichtet: ein angenähter Knopf in Nahaufnahme, sortierte Zeitungen für den Papiercontainer in der Aufsicht, ein Korb mit Wäsche auf dem Balkon im Gegenlicht, eine zarte frisch gewaschene Gardine vom Sonnenlicht transparent durchflutet, ein sich einander zuneigendes Schrubberpaar oder auch ein paar frisch gewienerte schwarze Herrenschuhe. Unter dem Titel Have you done your duty, den Ingeborg Knigge der an die Tür gehefteten Hausordnung englischer Jugendherbergen entlehnt hat, führt sie seit April 1991 bildlich Tagebuch. Seitdem sind rund 3000 Aufnahmen entstanden, jeweils drei bis sieben wöchentlich, datiert und nummeriert mit kurzen knappen Kommentaren wie Abendessen für die Kinder gemacht, Waschsalon 3 x 95 Grad & mangeln, Fenster vorne links, 1 Knopf angenäht oder 1 Nähtchen Weste versehen. Auf den ersten Blick mag dieses Gebaren wie eine zusätzliche Bürde wirken, die Potenzierung lästiger Pflichten. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Die Fotografie, sei es als impressionistischer Schnappschuss oder als sorgsam inszeniertes Stillleben, bildet vielmehr ein festes Gerüst, an dem sich die Künstlerin gesichert durch das Alltagsgestrüpp hangelt.
»Wenn die Fotos nicht wären«, sagt Ingeborg Knigge, »würde ich viele Dinge gar nicht erst in Angriff nehmen.« Die einmal aufgestellte Regel der festzuhaltenden heimischen Aktionen ist über die Jahre längst zum Ritual geworden und das Ritual zum Antriebsriemen. Und der beschleunigt und beschwingt offenbar zunehmend die einst so ungeliebten, sich zyklisch wiederholenden Verrichtungen, sowohl in ihrer praktischen Bewältigung als auch in der fotografischen Umsetzung.
»Kontemplative Momente« kann die 1955 in Hessen geborene und nach langen Jahren in Hamburg und in Brüssel im Saarland beheimatete Fotografin einer so lapidaren Tätigkeit wie Sockenstopfen inzwischen abgewinnen. »Ich könnte die kaputten Socken ja auch wegschmeissen,« sagt sie. Aber dann hätte sie sich ihrer Aufgabe nur entledigt. Das wäre ihr dann auch kein Bild wert und so geht sie in die Offensive, erledigt ihren Job und sinnt währenddessen über seine Umsetzung ins Bildhafte nach. Nach der Pflicht die Kür: mal arrangiert sie Stopfei, Schere, Garnrolle und abgeschnittene Fädchen auf einer Wolldecke wie ein klassisches Stillleben und läßt sie im Gegenlicht lange Schlagschatten werfen (Fr. 30. 1. 98, No. 1986, 1 Strumpf gestopft). Einen noch nicht fertig gestrickten Wollstrumpf mit vier Nadeln hat sie auf zusammengerechte Herbstblätter sinken lassen (Di. 5. 1. 93, No. 490, Socken) und setzt die Unschärfe des wolkig lockeren Untergrunds gegen die lineare Schärfe der Wollrippen. Die Maserung des hölzernen Küchentischs korrespondiert mit einem gestreiften, in weiche Falten gelegten Kleidungsstück, in das sie gerade drei Knopflöcher eingearbeitet hat (Mo. 24. 1. 00, No. 2560, 3 Knopfl. Maschine, etc.).
Im Museum Illingen kann man jetzt einen ausführlicheren Blick auf den in zehn Jahren angewachsenen fotografischen Mikrokosmos werfen, zwangsweise auch das nur ein Ausschnitt. Aber er belegt doch, wie sich die doppelte Buchführung immer heiterer und poetischer auf »das Werk« in beiderlei Hinsicht auswirkt. Beim Betrachten der zu Folgen und Fugen arrangierten, 9x13 cm kleinen, auf Karton aufgezogenen Aufnahmen und einer Gruppe von größeren Abzügen, die hier erstmalig zu sehen sind, bleiben Assoziationen nicht aus: der aus der Nähe auf einer grob gestrickten Jacke abgelichtete Knopf (11. 5. 94) erinnert in seiner grafischen, ausschnitthaften Wirkung an die Gemälde des italienischen Malers Domenico Gnoli. Die zwischen Licht und Schatten changierende Aufnahme einer dicht bestückten Wäscheleine (19. 4. 1994) scheint fast einer Seelenverwandschaft mit der Chinesin Quin Yufen entsprungen, die 1995 unzählige weiß behängte Wäscheständer in der Ausstellung Leiblicher Logos zeigte.
Das ist von der Fotografin nicht beabsichtigt, obwohl Anspielungen auf andere Künstler oder Kunstwerke in der Arbeit gelegentlich auftauchen. Aber es ist auch kein Zufall, daß sich viele Künstler beider Geschlechter in jüngerer Zeit aus den unterschiedlichsten Gedankengängen und Gefühlen heraus mit dem Thema Hausarbeit auseinandersetzen. Andreas Slominski faltete fein säuberlich karierte Staubtücher und legte sie im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt in akkuraten Stapeln aus, Jochen Flintzer wurde für seine gestickten Bilder mit dem Barlachpreis ausgezeichnet und Peter Rösel stichelt aus Polizeiuniformen Seerosen und Gummibäume. Der fast gleichaltrige mit Fotografie arbeitende Künstler Jörg Sasse fixiert in Farbe Gardinensäume oder Kachelfugen im Bad. Den Fokus in das Unscheinbare und Alltägliche zu legen, ihm etwas Kostbares, Eigenes, Bleibendes abzugewinnen, entspringt einer Weitsicht, die den Horizont zwar im Blick hat, aber nicht unbedingt ablichten muß. Vor allem scheint es Ingeborg Knigge darauf anzukommen, jeden Tag einen Stein in den dahinfließenden Lebensstrom zu werfen, der die verrinnende Zeit für Sekunden stört, sei es auch »nur« für den langen Schatten eines Handfegers auf den frisch gefegten Dielen.
© 2001 Alle Rechte liegen bei der Autorin.