Ingeborg Knigge   Rede zur Ausstellung im Galerieverein Wendlingen am Neckar

Ingeborg Knigge - Pflicht und Kür

Helfried Strauß

Die Hängeordnung der heute zu eröffnenden Ausstellung von Ingeborg Knigge und der Austragungsort des dazugehörigen Rituals veranlassen mich, zeitlich gesehen, das Pferd von hinten aufzuzäumen, denn wir stehen in diesem Raum vor den aktuellsten Arbeiten der Künstlerin. So ein richtiger Vollblutfotograf (dieser Terminus meint ausdrücklich beide Geschlechter) fährt nämlich in den Urlaub, um endlich einmal nach Herzenslust zu fotografieren, und Knigges sind gern am Meer, gut erreichbar muss es sein und reichlich Wellen soll es geben - also Onival in der Picardie.

Seit zwei Jahren macht Ingeborg Knigge dort etwas, was sie sich bis dahin noch nie gestattet hat: Sie fotografiert Bilder, die sie vorher nicht sehen kann, aber es fasziniert sie ungeheuer, zu jeder Tageszeit diese unendliche Urbewegung des Meeres an der Schnittstelle von Land und Wasser fotografisch - wie sie sagt - einzufrieren. Sie fotografiert sie - farbig - mit einer kleinen Digitalkamera und kurzen Belichtungszeiten immer wieder, und es scheint mir, als rücke sie mit diesem Tun ziemlich nahe an ihr altes Ideal der Bildhauerei heran, die sie sich während ihres Studiums am ehesten als den ihr gemäßen Beruf hätte denken können. Die zentrale Eigenschaft der Fotografie, im Bild die Zeit anzuhalten, erlaubt ihr nun, Poseidons Bildnerei auf die Schliche zu kommen. Sie wählt dafür den Moment der optimalen Vermengung der Medien - Wasser, Sand, Luft und Licht - alle sind beteiligt an den temporären Skulpturen, die sie uns hier zeigt. Und siehe da, unsere Phantasie würde nicht einmal ausreichen, uns die Vielgestalt der Wellen dieses einzigen Ortes aus den endlosen Gestaden der Meere vorzustellen. Sie nennt die Serie in Anknüpfung an frühere Serien Seestücke, nachdem sie vorbereitend bereits Wiesen-, Boden- und Waldstücke erarbeitet hatte.

Traditionsbezüge fallen einem bei solcher Benennung natürlich ein, aber angesichts der Arbeitsmethode scheint mir der schlichte Gedanke, dass hier das Thema Stück für Stück genauer bestimmt wird, näher zu liegen. Das Material gliedert Ingeborg Knigge in drei Bereiche, denn je nach Witterung und Tageszeit erscheinen in den Wellenformen Äquivalente für Landschaften, und sie scheinen aus unterschiedlichstem Material geformt; für mich der überraschendste Höhepunkt das seltsame, äußerst lebendige Schlenkertier in der Gischt.

Im Gespräch erfahre ich Ingeborg Knigges lebhafte Bestätigung für meine These, ihre Bilder dürften am liebsten so ausfallen, dass man das zu Sehende mit etwas Anderem verwechseln könnte. Das wird in anderen Werkkomplexen noch deutlicher: Eine gleichfalls jüngere Arbeit, parallel zu den Seestücken entstanden, sehen wir eine Etage höher in den Auto-scapes, Bilder, die ohne das Vorhandensein unserer blank gewienerten Vehikel und ohne das nach allen Richtungen bewegliche Display ihrer Digitalkamera nicht möglich wären; Fotografen tun schon immer das, was ihre Maschinen können, und jetzt kann man eben selbst bei verrücktestem Kamerastandpunkt das Bild noch genau kontrollieren.

Ingeborg Knigge nimmt das schätzungsweise Nutzloseste am Auto, seine reflektierenden Oberflächen, als Quelle überraschender Bilder ernst und betreibt an diesen ihre halbernsten Forschungen: Die Titel ihrer City-Landschaften verraten es schon: Sie heißen Bukarest, Bangor, Bologna, Damme oder Dublin, Murnau (einer der wenigen Orte, wo Knigge tatsächlich einmal war), Turku (klingt einfach gut), Leonberg (auf dem Weg nach Wendlingen als verwendbar entdeckt), Brügge, Nürnberg und Lüttich - alle gefunden in Saarbrücken; eventuelle Änderungen der Bildtitel schließt die Künstlerin nicht aus. Im St. Petersburg genannten Bild empfehle ich den Kunstfreunden, auf die Spiegelung des Aktbildes von Ludwig Kirchner zu achten.

Es ist tatsächlich eine Welt für sich, den Raum um das Fahrzeug, seinen Innenraum, alle Arten von Durchblicken, Ein- und überblendungen einschließlich des Raumes hinter und über dir in ein Bild, was ja heißt: auf eine Fläche, zu bringen. Ein Luxus, auf den man beim Autofahren tunlichst verzichten sollte. Visuelle Delikatessen: das Blinken einer Brille aus dem ansonsten nicht einsehbaren Fond eines Fahrzeugs oder inmitten eines flächig wirkenden Bildes die in einem gespiegelten Rückspiegel suggerierte Raumtiefe. So führen die Auto-scapes auf raffinierte Weise eine Erfahrung weiter ins Räumliche, die Ingeborg Knigge in vorhergehenden Werkkomplexen auf der Fläche gemacht hat. Was sie - deutlich rationaler, konstruierend zur Montage gebracht hat - findet sie in den Bildorganismen ihrer Spiegelungen, in einem Bild, bereits vor.

Fakturen und Bildteile, Raumausschnitte verbinden oder staffeln sich an beliebiger Stelle. Die neuen Bilder sind auf angenehme Weise welthaltig, weil sie durchaus vertraute Elemente des Alltäglichen bereithalten, zugleich aber vom Betrachter ein hohes Maß an Übersetzertätigkeit fordern. Da heute jeder fotografiert, profitiert die Bildermacherin natürlich von unserer zutiefst menschlichen Neugier, ihr dahinter zu kommen - bei mir zuhause würde man sagen: »...wie ses ner gemacht hot!?...«

Sie erinnern sich, liebes Publikum, ich hatte versprochen, das Werkpferd von hinten aufzuzäumen, deshalb komme ich jetzt zu der Vorgängerarbeit, deren Erfahrungszuwachs das eben Geschilderte erst möglich gemacht hat, zu sehen im Treppenaufgang und Vorraum der ersten Etage.

Ingeborg Knigge arbeitet gern und intensiv mit ihrem Archiv, auch hier interessieren sie Bedeutungsveränderungen, die das Erzeugen neuer Zusammenhänge zwangsläufig generiert. Besonders intensiv beschäftigte sie sich eine Zeit lang mit dem Zusammenfügen zweier Elemente bzw. Bilder zu einem neuen Bild, exemplarisch steht in der Schau für dieses Verfahren die Serie namens I-scapes. Sie setzt Bilder unter-, später auch nebeneinander. Beide Verfahren gehorchen eigenen Gesetzen. Die dadurch entstehenden verstörenden Räume beziehen ihre Spannung durch das Verkoppeln unterschiedlicher Perspektiven. Einer normalen, nach oben abgeschlossenen Stadtlandschaft wird eine weitwinklig gedehnte, tendenziell flächigere Draufsicht als scheinbarer Vordergrund angefügt: Die Bilder zweier verschieden erlebter Räume werden quasi aufeinander gestapelt. Das Ergebnis veranlasst mich, genauer hinzuschauen, Eigenheiten der Fotografie zu reflektieren - damit gehen Knigges Intentionen auf. Sie wolle, sagt sie, grundsätzlich der Ansicht entgegenwirken, dass Fotografie die Wirklichkeit abbilde. Ein weites Feld, über das ich jetzt nicht theoretisieren möchte, vielleicht finden Sie, die Adressaten dieser Bilder, heute Abend Gelegenheit, sich in diesen immer wieder spannenden Diskurs einzubringen, die Urheberin würde es bestimmt freuen.

Bleibt zum Schluss der Keller - Leichen werden Sie dort nicht finden, sehr wohl aber die durchgehende Basis-Arbeit Ingeborg Knigges, mit der sie sich in der Szene - schleichend, aber nachhaltig - bekannt gemacht hat und deren Wirkprinzip ihrer bislang umfangreichsten Präsentation auch den Titel gegeben hat: Pflicht und Kür. Vielleicht ist es Ihnen ja so gegangen, dass sie beim ersten Lesen zunächst skeptisch waren, aber auch neugierig wurden, was sich hinter dieser pseudosportlichen Ankündigung verbirgt. Denn eigentlich hatte ich eine andere Assoziation zuerst, über deren Berechtigung zu streiten sich sicher lohnen würde: Na, wenn das kein deutsches Thema ist, dachte ich bei mir und dann drängte sich dem Rhetoriker in mir gleich noch ein anderes Begriffspaar von ähnlicher Schwere auf, das ich nicht mehr loswurde: Schuld und Sühne. Ich hoffe, liebe Ingeborg Knigge, Sie sehen meinem Unterbewussten diesen Streich nach, den es mir da gespielt hat!

Zur Geschichte von Knigges umfangreichster und sie auch weiter beschäftigenden Arbeit: In einer britischen Jugendherberge begegnete die wesentlich jüngere Ingeborg vor Zeiten der dort angeschlagenen Einredung in Jedermanns Gewissen: Have you done your duty (Im Deutschen hieße es - bei gleicher Absicht - vermutlich: Bitte, verlassen Sie diesen Ort so, wie Sie ihn vorzufinden wünschen! Man könnte vermuten, dass hier die Verwendung von Frageform und Imperativ tatsächlich schon nationale Besonderheiten bezeichnen, aber das ist jetzt nicht unser Thema.

Über das sehr eigene Verständnis von Pflicht und Kür und seine Rolle für Knigges Werk ist schon reichlich reflektiert worden - ihre vorzüglich gepflegte Website gibt darüber erschöpfend Auskunft. In den dort versammelten Texten wird vor allem die Spur verfolgt, wie die Autorin sich - angeregt von englischer Herbergs-Ethik Begriff und Prinzip ausleiht und beginnt, ihre eigenen Tätigkeiten im Haushalt, der ja eh (seien Sie ehrlich, meine Herren) »Frauensache« ist, sorgsam visuell zu dokumentieren, sowie kalendarisch nach Kategorien zu erfassen.

Bald nennt sie ihre Serie nur noch Duties. Möglichst täglich ein Bild, immer analog, bitte sehr - aber wer kommt schon jeden Tag dazu, den Alltagspflichten zu genügen. Doch unter drei pro Woche gestattet sie sich nicht, und gemogelt wird nicht. In Tableaus, die dem Wochenrhythmus folgen, oder in streng chronologisch geordneten Reihen werden die Bilder im Format 9 x 13 cm präsentiert - und in diesem Format jeweils nur einmal in der Abfolge ihrer Ausstellungen. Was zur Folge hat, dass Sie in Wendlingen jetzt auf dem Stand von 2000 sind. Sie sollten wohl etwas öfter ausstellen, liebe Ingeborg Knigge! Um gar nicht erst in die Verlegenheit der Auswahl zu kommen, macht die Autorin prinzipiell nur eine Aufnahme. Das kleine Mädchen hinter der schönen Tür, das Sie - sinniger Weise - am Eingang empfangen hat, gehört natürlich auch zur Serie: »Mit ihr habe ich damals in Onival Fenster geputzt,« erinnert sich Ingeborg Knigge. Alles hat also seine Bewandtnis im wirklichen Leben, und dieser starke Rückhalt im Tatsächlichen macht auch die Stärke der Arbeit und, wie ich meine, immer noch die hauptsächliche Faszination des Mediums aus. Die solche Praxis beschreibende Theorie in den erwähnten Texten folgt hauptsächlich der plausiblen Legende, Knigge habe sich mit diesem Kunstgriff des Pflichtprogramms auch die alltäglichen Griffe leichter gemacht, weil sie durch deren nachfolgende Ästhetisierung im Abbild ja Selbstbelohnung erfahre und damit der auch dem Menschen (und nicht nur dem Labortier) eingepflanzte Wiederholungstäterschafts-Kreislauf unwiderruflich gestartet sei. »Auf diese Weise wird«, soviel bestätigt Knigge selbst, »die Pflicht zur Kür«. Theorie ist doch was Feines, oder?

Vorgestern frage ich nach und erfahre von der Künstlerin: »Nö, umgekehrt, ich bin von der Kür zur Pflicht gekommen« Auch gut, ich stelle fest: Künstler (und Knigge vielleicht ein Quentchen mehr als andere) müssen sich in die Pflicht nehmen, wenn auch lustvoll. Sie werden sich gleich ihren eigenen Reim darauf machen, es aber vermutlich längst ahnen: Natürlich ist da parallel zu aller Ernsthaftigkeit auch ein gutes Stück Selbstironie im Spiel.

Ingeborg Knigge ist eine äußerst sorgfältige Arbeiterin, wovon seit sechs Jahren ihre Studenten in den Saarbrückener Fotografiewerkstätten freudig profitieren. Ihr war von Anfang an sonnenklar, dass sie viel Geduld wird einbringen müssen, um die Technik photographischer Verfahren zu erlernen. Das passt: Geduld ist die natürliche Schwester der sich in Knigges Haltung offenbarenden Bescheidenheit - heute fährt sie dafür den Lohn ein: Sie beherrscht ihre Mittel exzellent, hat sich alles angeeignet, was sie für ihre Vorhaben braucht. Und kann wohl inzwischen auch das Ding mit der Pflicht etwas lockerer sehen, wenn sie über ihre Entwicklung sagt: »Für mich ist eine gewisse Unbewusstheit des Selbst bei der Arbeit, ein Selbstvergessen Voraussetzung für das Zustandekommen sprechender Bilder. Bilder, für die ich während des Sehens Worte habe, fotografiere ich nicht, sie sind mir zu wenig Bild. Lange Jahre hatte ich Angst, über meine Arbeit nachzudenken, sie in Worte zu fassen, weil ich befürchtete, dann den Zugang zum Bildermachen zu verlieren.«

Das ist mir sehr vertraut und kommt wohl - zumindest temporär in der Entwicklung eines jeden Bildermachers vor: Solange wir uns unserer Bilder noch nicht sicher sind, misstrauen wir dem Wort, weil es uns ablenkt, weil es in seinem Wesen zu weit entfernt ist von der visuellen Welt.

Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Geduld und wünsche einen ebenso vergnügten wie lehrreichen Abend vor den Bildern von Ingeborg Knigge.

Helfried Strauß
© Alle Rechte liegen beim Autor.  23. November 2012