Sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich sehr, dass ich heute einige Worte über die diesjährige Preisträgerin des Kunstpreises des Saarlandes Ingeborg Knigge und über ihr fotografisches Schaffen bemerken darf. Aber zu allererst, liebe Ingeborg, möchte ich Dir ganz herzlich zu dieser großen Auszeichnung gratulieren, der bedeutendsten, die im Land vergeben wird. Erstmals erhält eine Fotografin den Kunstpreis des Saarlandes.Im Hintergrund sahen Sie übrigens einen Film, der Ingeborg Knigges Ausstellung »Fortgang - Ingeborg Knigge retrospektiv« im Museum Schloss Fellenberg in Merzig im Jahr 2019 zeigt. Diese Ausstellung fand im Rahmen einer weiteren Ehrung statt, mit dem Monika-von-Boch-Preis für Fotografie, der alle zwei Jahre vergeben wird. Für die damit verbundenen Ausstellung hast Du, liebe Ingeborg, Dein gesamtes Werk gesichtet und einen großen Überblick in der Ausstellung zusammengestellt. In dem Film von Sarah Charlotte Schuler sahen Sie also diese Merziger Ausstellung und damit sehr viel von dem Gesamtwerk von Ingeborg Knigge, das ich im Folgenden kurz beschreiben möchte.
Ingeborg Knigge wird 1955 in Melsungen geboren. Ihre ersten Bilder nimmt sie mit einer 1979 erworbenen Nikon FM Kamera auf. Sie lebt damals in Frankfurt und hat ihr Universitätsstudium der Kunst und Pädagogik mit Schwerpunkt Bildhauerei gegen die Arbeit mit der Fotografie eingetauscht. Sie beginnt damit Bilder von Dingen aus ihrem Leben und auf Gängen durch die Stadt zu fotografieren. 1980 besucht sie die Sommerakademie in Salzburg und nimmt an Kursen von Floris Neusüss und Wilhelm Schürmann teil. Floris Neusüss steht für einen gestaltenden und experimentellen fotografischen Ansatz, Wilhelm Schürmann kommt dagegen aus dem Fotojournalismus, hat sich als Kurator einen Namen gemacht und vertritt einen künstlerischen Dokumentarismus. Zwischen diesen Positionen orientieren sich damals auch Ingeborg Knigges Interessen. Sie zieht nach Hamburg und arbeitet dort als Bildjournalistin für das Hamburger Magazin Szene. 1987 folgt ein Umzug, gemeinsam mit ihrem Mann Hermann Becker, nach Brüssel und Ingeborg Knigge führt etwas fort, was sie sieben Jahre zuvor schon einmal praktizierte: Sie stellt ihre Bilder, die abseits von Aufträgen entstehen, in Alben und in gebundenen Büchern zusammen. Im Kombinieren der Bilder liegt ein wichtiger schöpferischer Moment.
Nicht um Ereignisse selbst, sondern um ihre Spuren, die Nachlässe menschlicher Handlungen und Taten, geht es in den Bildern aus der Serie La chasse - Die Jagd, die 1989 zum ersten Mal im Hamburger Westwerk ausgestellt wird. Ingeborg Knigge widmet sich Motiven, die Assoziationen mit dem Jagen provozieren, und kombiniert sie mit »tatsächlichen« Jagdbildern. Beute Machen bedeutet nicht nur Inbesitznahme, sondern sie drängt auch nach Präsentation. Und diese Funktion des Bildes übernimmt die Fotografie, wie auch die des Schießens: Der Moment ist erstarrt, immer und in jeder Fotografie – das Bild wird aus Zeit und Raum geschnitten. In La chasse spielt Ingeborg Knigge auf das Jagen als fotografischen Archetypus an, ähnlich wie der brasilianische Philosoph Villem Flusser die Fotografie als Jagd im Dickicht der Kulturobjekte beschreibt.
Ingeborg, Du erzählst Geschichten, die sich vom Ursprung der Entstehung ihrer Fotografien lösen. Den Kontext Deiner Bilder kennen die Betrachter nicht. Und obwohl die analoge Fotografie immer an ihren Referenten gebunden ist, heißt das nicht, dass die Aussage einer Fotografie klar und eindeutig ist. Du belegst, dass die Bedeutung oder der Sinn zunächst von der Inszenierung des Bildes in einer Reihe, in einer Serie, in einer Erzählung durch den Bildautor, aber auch von den Assoziationen der Betrachter beeinflusst wird. Erst in diesem Wechselspiel konstituiert sich der Sinn, die Botschaft der Fotografie. Mit La chasse entwickelst Du das, was Roland Barthes als Mythos bezeichnet: Du löst die Fotografie aus einem ersten Verhältnis von Bezeichnendem und Bezeichnetem heraus und entwickelst ein Übergeordnetes. Dem entspricht auch Deine Arbeitsweise. Du gehst nicht von einem fotografischen Vorhaben aus und fotografierst Deine Motive, sondern Du fotografierst, pirschst, siehst und schnappst zu, sammelst Trophäen. Erst deutlich später fügst Du die Ausbeute nach einer bestimmten Ordnung in Serien zusammen.
1991 beginnst Du dein bislang umfangreichstes Projekt und es dauert bis heute an. Unter dem Titel Have you done your duty (Hast Du Deine Pflicht getan) entstehen – bis auf wenige Ausnahmen – täglich Fotografien von den Ergebnissen erledigter Hausarbeit. Die sorgfältig komponierten Bilder vermitteln den Eindruck hoher Wertigkeit von Arbeiten wie Bügeln, Putzen, Reparieren. Die Sorgfalt, die dem Arrangement der Dinge in den Fotografien beigemessen wird, erinnert an das Vorgehen der Fotografen der Neuen Sachlichkeit. Mit Hingabe werden die charakteristischen Eigenschaften der sichtbaren Materialien akzentuiert. Der größte Unterschied zur suggestiven Sachfotografie liegt bei Deinem Vorgehen in der Vermeidung von Effekten des Spektakulären oder des Sensationellen. Es sind auch keine besonderen Gegenstände, etwa so genannte Designerstücke, sondern »normale« Dinge. Es gibt auch keinen Effektezauber, keine extremen Perspektiven, keine extremen Kontraste. Und doch erscheint ein Stapel Bügelwäsche aus der Duties-Serie als anziehendes Monument des Materials und der Arbeit. Dies erinnert bisweilen an die Gratwanderung Walter Benjamins, wenn er einerseits die Fotografie von August Sander schätzt, weil sie der Erkenntnis diene, und andererseits die Bilder von Albert Renger-Patzsch verurteilt, weil sie nur oberflächlicher Schönheit hinterherlaufen. Mit der Arbeit, mit der Du Dich in Deinen Bildern auseinandersetzt, hätten sich aber weder Sander, noch Renger beschäftigt. So objektivistisch der Eindruck Deiner einzelnen Fotografien zunächst auch sein mag, zeigst Du in der Serie sehr persönliche Dinge – sie stehen für Tätigkeiten, die heute nicht mehr unbedingt üblich sind: Etwa das Reparieren von Textilien. Auch die Reinigung des Hauses überlässt man, wenn es geht, anderen. In Serie wird der Eindruck enormer Produktivität hervorgerufen, nicht irgendeine, sondern eine sehr persönliche. Indem Du Deine Hausarbeit fotografierst, setzt Du Produktion und Reproduktion – ein Gegensatzpaar von ehrwürdiger Bauhaus-Tradition – in Beziehung. In diesem Moment wird deutlich, dass die zu erfüllenden Pflichten nicht nur in den dargestellten Arbeitsergebnissen liegen: Zu Deinen Pflichten gehört eben das Fotografieren selbst. Man sieht es nicht, steht aber vor seinem Ergebnis.
Während Du in La chasse mit der Abfolge von Stadtfotografien eine neue Bedeutungsstruktur entwickelst, die den einzelnen Motiven an sich fremd ist, arbeitest Du in der Serie I-scapes direkt mit der Montagetechnik. Es werden immer zwei Bilder aneinandergesetzt, immer auf Stoß neben- oder untereinander montiert. Du setzst in dieser Serie Bilder zusammen, die nicht zusammengehören. Die Betrachter aber staunen, wie das, was nicht zueinander gehört zueinander passt. Fahrbahnen führen gegen eine Mauer: Funktionale Zusammenhänge gleiten ins Absurde. Du führst Weltsplitter zusammen, verwirrst unsere schematische Weltsicht und zertrümmerst das fundamentale, gegenseitig abhängige fotografische Verhältnis von Zeit und Raum.
Ingeborg, Du lebst und arbeitest seit 1993 in Saarbrücken, wirst 1999 in den Saarländischen Künstlerbund aufgenommen. 2003 entsteht eine neue Serie: Hausnummern. Es handelt sich um Architekturansichten. Fotografiert werden grundsätzlich nur nummerierte Eingänge. Besondere Gebäude wie Rathäuser, Kirchen, oder Schlösser haben keine Hausnummern. – Hauseingänge sind eine Schnittstelle von Privatheit und öffentlichkeit. Sie werden geschmückt mit Blumen, Fliesen, Wandverkleidungen und Spezialgläsern. Sie kommen seltener aus der Fachwerkstatt, meistens aus dem Baumarkt. Aber es geht nicht um die Darstellung eines barbarischen Geschmacks, ein Begriff von Pierre Bourdieu, also um die Praxis einer illegitimen Schönheit allein. Ingeborg, Du näherst Dich in Deiner Serie jedem einzelnen Motiv mit einer positiven Grundhaltung, geradezu liebevoll und mit größter dokumentarischer Sorgfalt.
Seit Ende der 1990er Jahre entstehen immer mehr Arbeiten in Farbe. In Farbe nimmt Ingeborg Knigge Naturbilder wie die Wiesen-, Wald-, See- und Bodenstücke auf. Es sind Landschaften, die vom Motiv her geografisch nicht zu identifizieren sind. Sie zeigen ein mikrokosmisches Bild von der Gemeinschaft verschiedener Kräuter, Symbiosen von Pilzen und Holz, zeigen aber auch das Eingreifen des Menschen, wenn sich auf laubbedecktem Boden Bäume in Holz verwandeln. Auch in der Serie Pfützen werden diese Mikroansichten mit den glänzenden und spiegelnden Wasseroberflächen kombiniert. Die Naturfotografien sind ganz typisch für die Saarbrücker Schaffenszeit der Künstlerin. Sie kann mit dem Stativ ohne allzu große Mühe in den Wald gelangen - die Wege in die Natur sind nicht weit.
In den Seestücken widmet sich die Fotografin brechenden Wellen mit aufgewühlten Schaumkronen. Im Einzelbild wirken die Schaumfetzen wie erstarrt, in der Serie wird aber eine stetige Veränderung ihrer Form zum Ausdruck gebracht. Zudem entstehen auch wieder Bilder, die das Ergebnis von Streifzügen durch die Stadt sind: Auto-scapes und Straßenstücke werden in groß angelegten Reihen, fast wie Beweisstücke einer wissenschaftlichen Untersuchung gesammelt. Hierbei erprobt Ingeborg Knigge neue Perspektiven. Sie benutzt jetzt häufig den Lichtschachtsucher, schaut von oben in die Kamera sieht das Spiegelbild der Wirklichkeit und arbeitet dadurch automatisch bildmäßiger. Aber auch in diesen beiden neueren Ansätzen erkennt man die zwei Pole ihrer Arbeit, die einerseits im Erzählen und andererseits im formalen Interesse liegen. Während in den Auto-scapes die spiegelnden, verzerrenden und lackierten Oberflächen als bildgenerierende Instrumente in Anspruch genommen werden, kommt hier das Formale stärker zum Tragen als in den Straßenstücken. Diese bringt die Fotografin im Rahmen eines Ausstellungsprojekts zu Yvan Goll 2017 in Kombination mit seinen Haiku-Gedichten und man fragt sich wie gewisse Bremsspuren entstanden sind, gerät wieder wie in La chasse ins Rätseln über Spuren von Taten. Und die Kombination von Fotografie mit poetisch angelegten Texten erinnert an einige ihrer Alben, die sie auch oft mit kleinen Texten versah.
Die Arbeiten von Ingeborg Knigge sind verwoben mit Ansätzen aus der Konzept-Kunst, die mit der Vorstellung einer stetigen Fortentwicklung und Erneuerung der Moderne brechen. Ihre Fotografien sind weit entfernt von extremen Perspektiven und Bildausschnitten. Ihr Stil ist dokumentarisch, aber ihre Bilder und Serien unterziehen das Dokumentarische einer Kritik und bezweifelt die Eindeutigkeit fotografischer Aussagen.
2006 hast Du, liebe Ingeborg, an der HBK Saar die Leitung des Foto-Ateliers übernommen – sozusagen in der ehemaligen Wirkungsstätte Otto Steinerts in den 1950er Jahren, der seither mit der von ihm so benannten »subjektiven fotografie« Saarbrücken bis heute einen Platz in der Fotografiegeschichte sicherte. In Deiner Zeit an der HBK hast Du auch dafür gesorgt, dass die Studierenden in der Fotografie eine solide technische Ausbildung an die Hand bekommen um ihre künstlerischen Absichten souverän umsetzen können. Es ging aber nicht nur um Technik: In vielen Projekten hast Du mit den Studierenden Konzepte erdacht, erarbeitet und umgesetzt, d.h. schließlich auch zur Ausstellung gebracht. Ich erinnere mich noch gut an eines der letzten, das Du gemeinsam mit Gabriele Langendorf in den Medien Zeichnung und Fotografie in der Modernen Galerie des Saarlandmuseums unter dem Titel »Maschine Museum« 2018/2019 realisiert hast. Auf einmal waren weniger die Ausstellungssäle mit den wertvollen Kunstwerken von Interesse, sondern die Menschen, die im Museum arbeiten und es am Laufen halten. Die Büros, die Verwaltungsgänge, die Teeküche und die Werkstätten waren bevölkert von jungen Künstlerinnen und Künstlern, die zeichneten und fotografierten. Sie blieben eine Weile, erkundigten sich nach Arbeitsabläufen, beobachteten und hielten fest. Nach einiger Zeit waren die Ergebnisse ausstellungsbereit und die in unserem Arbeitsumfeld entstandenen Bilder waren an den Wänden zu sehen – ebenso in der Verwaltung wie im Foyer der Modernen Galerie. Ein ganz ähnliches Projekt fand zuvor auch an anderen »Kulturorten« statt etwa in der Deutschen Radiophilharmonie. Auch diese Arbeit wurde mit Preisen geehrt.
Sie alle ahnen es, ich bin der Meinung, dass der Kunstpreis des Saarlandes an eine Künstlerin gegangen ist, die ihn mehr als verdient hat. Es wird der Fokus gerichtet auf ein großes künstlerisches Werk von großer Stringenz, Konsequenz und durch und durch technischer Virtuosität geprägt ist.
Liebe Ingeborg, hab´ herzlichen Dank für Deine Kunst!
Liebe Zuhörer, haben Sie herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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